Sherry B. Ortner (DE)

Dieser Eintrag ist einer meiner feministischen Theorie-Heldinnen der 80er Jahre gewidmet. Natürlich kehre ich ständig zu bestimmten theoretischen Interessen, die ich vor zwanzig Jahren schon hatte, zurück. Aber in letzter Zeit haben einige Autorinnen, die in der Vergangenheit wichtig für mich waren, an die ich aber länger nicht mehr gedacht und von denen ich auch schon eine Weile nichts mehr gehört hatte, metaphorisch gesprochen meinen Pfad gekreuzt. Was mich dazu brachte, darüber nachzudenken, was an ihrer Arbeit damals für mich wichtig war und was heute, und über die Kontinuitäten und Diskontinuitäten ihrer theoretischen Anstrengungen.

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Ich kam 1986 aus den USA nach West-Berlin zurück. Zu dieser Zeit war es für deutsche Staatsangehörige noch relativ einfach von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld zu leben und es gelang mir, relativ wenig zu arbeiten, bis Ende der 80er Jahre, als ich mit meiner Physiotherapieausbildung begann.
Wie immer las ich viel. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war es, mit der U-Bahn nach Dahlem im Südwesten von Berlin zu fahren, Stunden im Magazin der Zentralbibliothek der Freien Uninversität zu verbringen und mit Stapeln von Büchern zurück nach hause zu fahren.
Ein Feld, das mich zu dieser Zeit besonders interessierte war feministische Anthropologie. In irgendeinem Karton habe ich bestimmt noch die Kopien die ich damals gemacht habe, von Artikeln aus Rosaldo & Lamphere (Hrsg.) “Woman, Culture and Society” (1974) und Reiter (Hrsg.): “Toward an Anthropology of Women” (1975).
Das war bevor ich begann, mich ernsthaft theoretisch für race und Rassismus zu interessieren. Ich hatte die Existenz des Black feminism noch nicht so richtig zur Kenntnis genommen, und Postcolonial Studies als Feld entdeckte ich erst einige Jahre später.
Zwar interessierte ich mich für den Zusammenhang zwischen Klasse und Geschlecht, für die Artikulation (oder wie auch immer) von Kapitalismus und Patriarchat – deswegen war zum Beispiel, was die feministisch-anthropologische Literatur betraf, ein von R. Hirschon herausgegebener Sammelband, “Women and Property, Women as Property” (1984) für mich zu der Zeit ein wichtiges Buch.
Aber hauptsächlich las ich feministische Anthropologie auf der Suche nach Antworten auf meine Fragen nach dem Ursprung des Patriarchats, danach, ob Männerherrschaft ein universelles Merkmal menschlicher Gesellschaften ist, und wenn ja warum. Ich war Fan von “Sexual Meanings” (1981), einer von Sherry Ortner und Harriet Whitehead herausgegebenen Aufsatzsammlung.
Ich lehnte linke Ideen von Klasse als “Hauptwiderspruch” heftig ab und hielt recht wenig von Engels’ Theorie über den Ursprung der Familie undsoweiter, und von den Ideen marxistischer Anthropologen die aus meiner Sicht lediglich leichte Abwandlungen von Engels’ Ideen produzierten – alles völlig in Ordnung, grundsätzlich sehe ich das heute auch nicht anders. Von meinem heutigen Standpunkt aus sehe ich jedoch deutlich meine Tendenz, genau dieselbe totalisierende, reduktive Herangehensweise an Gesellschaft, die sich in klassischen linken Analysen findet, zu übernehmen – der Versuch eine zentrale Logik zu identifizieren, die einen Set gesellschaftlicher Verhältnisse determiniert, die alles andere determinieren – und nur bestimmte Begriffe durch andere zu ersetzen, das heisst, jetzt war die zentrale Logik eben das Patriarchat oder männliche Dominanz und grundsätzlich war das überall und zu allen Zeiten mehr oder weniger dasselbe… Ich übertreibe ein wenig, aber in der Tat, ich wollte zu dieser Zeit einfache Antworten und grosse Wahrheiten – ich liebte Verwicklungen, Widersprüche und ungelöste Fragen nicht…
Die Intersektion von “Rasse”/race und Geschlecht beschäftigte mich noch nicht besonders. Noch interessierte mich wirklich im Detail, was mit vorkapitalistischen Gesellschaften unter Kolonialismus und Imperialismus eigentlich geschah. Dies wurde mir klar, als mir vor einigen Wochen in meinem Regal “Feminism and Anthropology” (1988) von Henrietta Moore in die Hände fiel – ein Buch, das ich seit seit zwanzig Jahren rumstehen habe, von dem ich aber nie mehr als die ersten beiden Kapitel gelesen habe. Ich nahm es auf einen kurzen Urlaub mit und las das ganze Buch mit grossem Interesse, vor allem das Kapitel “Kinship, Labour and Household: Understanding Women’s Work”.
So entdecke ich momentan, wenn auch auf eine neue Art, meine alte Faszination mit diesem Gebiet wieder. Es war eine sehr gute Erfahrung, einige neuere Artikel einer meiner Heldinnen der 80er Jahre, Sherry B. Ortner, zu lesen, in “Making Gender” (1996), einer Sammlung ihrer Arbeiten aus 25 Jahren. Es gab mir Gelegenheit, die Entwicklung einer brillianten Denkerin nachzuvollziehen, ihre Perspektivwechsel zu verstehen – und zu realisieren, dass kritische Neueinschätzungen und Perspektivwechsel ältere Arbeiten nicht notwendigerweise ungültig machen…