Was heisst linksradikal?

‘Links’ impliziert einen Bezug auf die sozialistische Tradition (die politische Bedeutung des Wortes hat mit der Sitzordnung im franzoesischen Parlament im 19. Jahrhundert zu tun), ‘radikal’ spricht von der Differenzierung dieser Tradition und dem Anspruch bestimmter Stroemungen, die radix (Wurzel) des Uebels, der herrschenden gesellschaftlichen Verhaeltnisse naemlich, zu erkennen (um sie ‘auszureissen’?).

Linksradikalismus sollte meines Erachtens in Abgrenzung nicht nur zur Sozialdemokratie sondern auch zum Leninismus definiert werden, denn es ist nicht einzusehen, was an einer autoritaeren Stroemung, die weder den Staat noch die Warenform abschaffen will, radikal sein soll.
Einen positiven Bezug auf die anarchistische Tradition, aber auch auf die raetekommunistischen und andere libertaer-sozialistische Stroemungen finde ich wichtig.
Eine Ueberwindung des Antagonismus zwischen anarchistischer und marxistischer Theorie waere die Voraussetzung einer linksradikalen Theoriebildung auf der Hoehe der Zeit. Dies setzt meines Erachtens eine Interpretation der Marx’schen Kritik voraus, die eine radikale Kritik des Staates, der Produktionsweise, der Arbeit, der Zeit, der Verdinglichung der sozialen Beziehungen und nicht bloss eine Kritik der Verteilung und der formalen Eigentumsverhaeltnisse ermoeglicht1.

Linksradikale Theorie und Praxis die den Namen verdient, sollte eine fundamentale Kritik des patriarchalen Geschlechterverhaeltnisses als nicht aus dem Kapitalverhaeltnis ableitbare Herrschaftsform beinhalten.
Das setzt eine Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und Praxis voraus, eine klare Abgrenzung von liberalen und reformistischen Feminismen und den Anschluss an nicht-biologistische radikalfeministische Ansaetze und solche sozialistisch-feministische Ansaetze, die das Geschlechterverhaeltnis nicht bloss wieder in einen traditionellen sozialistischen Entwurf einzugemeinden versuchen2.
Darueberhinaus sollte antipatriarchales Denken und Handeln anti-heterosexistisch sein, d.h. die gesellschaftliche Norm Heterosexualitaet angreifen. Geschlecht und Sexualitaet lassen sich schlecht getrennt begreifen; ich finde, die radikale Linke braucht dringend eine Theorie der Sexualitaet, eine ‘Kritik der politischen Sexualitaet’.3

Linksradikalismus definiere ich als notwendigerweise antirassistisch, wobei Rassismus sowohl in seinen institutionellen wie in seinen psychischen und ideologischen Aspekten erfasst werden sollte.
Rassismus muss als eigenstaendiges Unterdrueckungsverhaeltnis begriffen werden, er ist nicht nur Ideologie sondern Praxis und Ideologie. Rassismus ist ein Diskurs und eine Praxis, die ethnische Gruppen abwertet. Er laesst sich nicht getrennt von Ethnizitaet und Nationalismus begreifen4.

Es kann meiner Ansicht nach inzwischen nicht mehr als besonders radikal gelten, ‘Klasse, Rasse und Geschlecht’ ‘gleichberechtigt’ nebeneinander zu stellen und dann in verschiedener Weise miteinander zu addieren. Es muesste inzwischen sehr klar geworden sein, dass rassistische und sexistische Stereotype, Fantasien von Krankheit und Degeneration, Bilder vom Juden und Traeume von der Suedsee nicht unabhaengig voneinander existieren; dass z.B. Rassismus und Sexismus nur als ‘mutually constitutive’5 zu begreifen sind.

Linksradikales Denken kann und darf keine westliche Folklore, keine eurozentrische Theorie bleiben, sondern muss sich unbedingt zusehends internationalisieren oder besser, transnationalisieren. Insofern ist der kritische Bezug auf den klassischen trikontinentalen Antiimperialismus wichtig, die Diskussionen um ‘neue Internationalismen’ und die Beitraege postkolonialer TheoretikerInnen muessten aufgenommen und mit den hierzulande kursierenden antinationalen Diskursen in Bezug gesetzt werden.

Antisemitismus zu begreifen ist von entscheidender Bedeutung fuer eine radikale Linke. Gerade fuer die deutsche Linke muss es darum gehen, sich der eigenen Geschichte zu stellen: der Geschichte des NS, der singulaeren, aus keiner oekonomischen Logik erklaerbaren Tat der fabrikmaessigen Vernichtung der Juedinnen und Juden; der Geschichte des linken Antisemitismus ueberhaupt und des antizionistischen Antisemitismus der deutschen Neuen Linken im Besonderen.
Antisemitismus mit der Kritischen Theorie als notwendige und strukturelle Bewusstseinsform zu begreifen, und nicht als irgendein beliebiges Vorurteil, und der damit verbundene Versuch, die verkuerzte Kapitalismuskritik und die Anfaelligkeit fuer voelkische Ressentiments und Querfrontstrategien der leninistischen aber auch anderer linker Traditionen, zu ueberwinden, halte ich fuer ein zentrales Moment in der Neubestimmung einer radikalen Linken.

Ebenso bedarf es theoretischer wie strategisch-politischer Anstrengungen, um die naturwissenschaftlich und reformistisch verengte Thematisierung des gesellschaftlichen Naturverhaeltnisses als ‘Oekologie’ (wieder?) zu oeffnen in Richtung einer Thematisierung des herrschaftlichen und ausbeuterischen Verhaeltnisses zur aeusseren Natur und wie dieses mit gesellschaftlicher Herrschaft und herrschaftlicher Strukturierung der Subjekte zusammenhaengt.

Subjektivitaet war ein zentrales Motiv in den theoretischen Debatten der Neuen Linken der 60er und 70er Jahre, der Theorie und Praxis der ‘zweiten Welle’ des Feminismus in den westlichen Staaten undsoweiter…: Linksradikalismus bedeutet meiner Ansicht nach auch und ganz entscheidend den Versuch, die Herrschaft im Subjekt zu destabilisieren. Es geht auf theoretischer Ebene um eine Verknuepfung von ‘Makro’- und ‘Mikro’-Analysen, auf praktischer Ebene um die Vermittlung von persoenlichen Veraenderungsprozessen mit ‘makro’-politischer Organisierung und Aktion6.

Die notwendige Vermittlung von individueller Veaenderung mit kollektiver politischer Praxis ist mit einem weiteren ‘Vermittlungsproblem’ linksradikaler Praxis verknuepft, naemlich der ‘Vermittlung’ zwischen Weg und Ziel – also: Methoden aktueller Praxis versus utopische Werte…
Eine ‘reife’ linksradikale Praxis muesste sich sowohl vom naiven Utopismus vornehmlich anarchistischer Provenienz abgrenzen, der Weg und Ziel umstandslos identisch setzt, als auch vom kritischen Zynismus vor allem marxistischer Intellektueller, der utopisches Denken desavouiert und jegliche ‘Mikropolitik’/lifestyle politics als blosse systemimmanente Lebensreformerei denunziert7.

Linksradikales Denken bedeutet fuer mich ganz entscheidend, zu versuchen die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der eigenen theoretischen Werkzeuge zu reflektieren.
Linksradikale Theorie heute heisst fuer mich, mit poststrukturalistischen Ideen, durch die postmoderne Kritik hindurch die klassischen linken Ansaetze zu hinterfragen, das was historisch ueberholt ist (und das was schon immer falsch war), zu verwerfen; und zugleich, im selben Prozess, das – unser – ‘postmoderne(s) Denken’ als Ideologie der juengsten Entwicklungsstufe der globalen patriarchalen Klassengesellschaft zu begreifen und zu versuchen eine kritische Distanz dazu einzunehmen8.

Es ist ein Verdienst poststrukturalistischer Tendenzen, den Essentialismus feministischer, antirassistischer und befreiungsnationalistischer Identitaetspolitiken kritisiert und den traditionslinken Universalismus als weissen westlichen Partikularismus enttarnt zu haben.
Die Konsequenz aus diesen Kritiken sollte meiner Meinung nach nicht sein, Identitaetspolitik aufzugeben, genausowenig wie jeder Versuch, programmatisch “vereinheitlichte” Buendnisse zu schaffen notwendigerweise eine ganz schlimme totalitaere9 Sache ist.
Linksradikale Politik heute, behaupte ich stattdessen, sollte versuchen strategische Identitaetspolitiken10 zu entwerfen, die Einheiten ueber Differenzen hinweg konstruieren, ohne die Differenzen zu leugnen und ohne die Einheiten als natuerlich zu setzen; die sich der Gefahren der Essentialisierung, Naturalisierung, Homogenisierung bewusst bleiben.11
Daraus folgt ein pragmatischer und flexibler Umgang mit “identitaetsbestimmten Gruppen”, eine unaufhoerliche Problematisierung von Homogenisierung nach innen und Abgrenzung nach aussen.12

Linksradikalismus definiert sich meines Erachtens in Abgrenzung von reformistischen Ansaetzen. Anti-reformistisch zu sein bedeutet nicht gegen Reformen des Systems zu sein, sondern eine extrem kritische Abwaegung subversiver und affirmativer Aspekte jedes politischen Projekts vorzunehmen, sich dabei der Kraefteverhaeltnisse bewusst zu sein (und das heisst meistens, sich die eigene Ohnmacht schonungslos einzugestehen) und sich vor Augen zu halten, dass die Integration von Protest, die Kooptation politischer und aesthetischer Opposition einer der wichtigsten Funktionsmechanismen ‘postmoderner’ patriarchaler Klassengesellschaften ist. Eine radikale Staatskritik bedeutet nicht, nicht in Institutionen zu arbeiten, bedeutet aber diese Arbeit immer wieder so ehrlich wie moeglich auf ihren emanzipatorischen Gehalt hin zu befragen.
Radikale Staatskritik bedeutet einzusehen, dass eine befreite Gesellschaft niemals ueber die Eroberung des Staates erreicht werden kann, auch wenn Kaempfe um Hegemonie auch innerhalb staatlicher Institutionen wichtig sind. Sie bedeutet zu verstehen, dass parteifoermige Organisierung und Integration in den parlamentarischen, institutionellen Apparat staatlicher Herrschaft keine gangbaren Wege zur notwendigen fundamentalen Transformation, also: Revolution, der gesellschaftlichen Verhaeltnisse sind.